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Interview mit Frau Prof. Dr. Dr.-Ing. Dr. h. c. J. Ovtcharova vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) zum Thema Industrie 4.0

Industrie 4.0 bietet für viele Bereiche der Produktion völlig neue Anforderungen und bedeutet nicht nur für die Entwicklung von Produkt und Fertigung neue Sichtweisen. Dazu lesen Sie bitte folgendes Interview von Gottfried Roosen mit Frau Prof. Dr. Dr.-Ing. Dr. h. c. J. Ovtcharova vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Informationsmanagement im Ingenieurwesen (IMI), die ein Industrie 4.0 Labor mit Partnern der Industrie im Lifecycle Engineering Solution Center (LESC) und Forschungsprojekte im Industrie 4.0 Bereich realisiert hat.

Gottfried Roosen: "Guten Tag Frau Prof. Dr. Dr.-Ing. Jivka Ovtcharova, Sie verfügen über eine hohe Kompetenz nicht nur aus Ihrer hervorragenden Erfahrung in Forschung und Lehre, sondern auch aus der langjährigen Praxis für General Motors im Product Lifecycle Management und im virtuellen Engineering.

Im Lifecycle Engineering Solutions Center (LESC) befassen Sie sich mit innovativen Lösungen zum Thema Management der Information in Engineering-Prozessen und Virtual Reality Technologien."

Frau Ovtcharova: "Das Lifecycle Engineering Solutions Center (LESC), im Jahre 2008 gegründet, ist eine moderne KIT-Einrichtung für interdisziplinäre Forschung, Bildung und Wissenstransfer in der Wirtschaft und Gesellschaft. LESC setzt sich als Ziel, durch Verschmelzung von virtuellen und realen Welten neuartige Ingenieurlösungen der angekündigten vierten industriellen Revolution – „Industrie 4.0“ – zu erarbeiten. Bei allen Anwendungen, die im Zusammenhang mit der Verwaltung von komplexen und umfangreichen Datenmengen stehen, setzt das LESC mit seinem Ansatz „Reducing Complexity“ an und reduziert die Komplexität auf das Wesentliche, um Entscheidungsprozesse zu beschleunigen."

Gottfried Roosen:"Welche aktuelle Chancen und Einsatzgebiete sehen Sie im industriellen Bereich und im Maschinenbau im Umgang mit diesen Systemen?"

Frau Ovtcharova: "Was man von der aktuellen Marktsituation lernen kann, ist, dem gesellschaftlichen Megatrend der Individualisierung Rechnung zu tragen. Die heute entwickelten Produkte werden überwiegend in großen Serien hergestellt. Deren Erfolg entscheidet sich jedoch in der Zukunft durch die Nachfrage und Zufriedenheit individueller Kunden, bei denen die Differenzierung über Produktmerkmale allein an Gewicht verliert. Wir sind Augenzeugen der Verschmelzung von Produkten und Dienstleistungen, die den Übergang vom produzierenden Unternehmen zum Lösungsanbieter und damit ein tiefgreifendes Umdenken erfordert. 
 Angesichts der stetig wachsenden Produkt- und Prozeßkomplexität erfordert die industrielle Praxis heutzutage eine nachhaltige Kundenintegration über den gesamten Produktlebenszyklus. Es gilt, sich von der strikten Trennung von Entwicklung, Einkauf, Fertigung, Vertrieb oder Service zu verabschieden. Die zunehmende Personalisierung kommt durch die subjektive und emotional betonte Wahrnehmung von Produkten und Dienstleistungen, die insbesondere durch den Einsatz von Virtual Reality Technologien zum Ausdruck kommt."

Gottfried Roosen:."Die Hightech-Strategie der deutschen Bundesregierung propagiert mit dem Zukunftsprojekt Industrie 4.0 in Zusammenarbeit mit Forschungsinstituten, Verbänden und der Industrie die intelligente Fabrik, die der deutschen Industrie einen langfristigen Vorteil im internationalen Wettbewerb sichern soll.
Welche Anforderungen sollten aus Ihrer Sicht die Informations- und Kommunikationssysteme in diesem Zusammenhang den Firmen und Anwendern in Zukunft bieten?"

Frau Ovtcharova: "In Industrie 4.0 wird die Echtzeit zum ersten Mal als entscheidendes Produkt- und Dienstleistungsmerkmal angesehen. Zum einen durchdringt das Internet unseren Alltag immer mehr, ob privat oder beruflich. Kunden erwarten, daß sie just in time, aktuell, zielgerichtet und zufriedenstellend informiert werden. Rabattaktionen, Austausch und Informationen über die Nutzung sowie differenzierte Meinungen oder Einstellungen zu einem Produkt sind unerläßlich geworden. Immer mehr Menschen fühlen sich bestimmten Marken, Produkten und Dienstleistungen gegenüber verbunden.

Der Zeitfaktor ist dabei entscheidend, denn in wenigen Stunden oder Tagen kann eine Aktion zum Erfolg oder zur Ablehnung führen. Für Unternehmen ist es daher wichtig, kontinuierlich neue Inhalte zu posten, um ihren „Freundeskreis“ zu pflegen und auszubauen.
 Zum anderen sind die zeitnahe Auswertung von Nutzerdaten sowie vorausschauende Dienstleistungen von großer Bedeutung. Das physische Produkt spielt natürlich eine wichtige Rolle. Im Vordergrund steht aber seine reibungslose Funktionsfähigkeit, die durch entsprechende Dienstleistungen gesichert wird. So kann beispielsweise ein Anlagenbetreiber anhand des Einlesens von Sensordaten in einer Simulationsumgebung die realen Abläufe in der Anlage möglichst in Echtzeit berechnen und im 3D-Raum sehen und verfolgen. Dadurch entsteht für die reale Anlage quasi ein virtueller Zwilling oder, modern ausgedrückt, ein Avatar. Durch so eine virtuelle Zustandsüberwachung kann der Betreiber die aktuelle Situation in der Anlage sehr schnell einschätzen und eine Wartung einleiten, bevor es zu Störfällen im Betrieb kommt. Aus Herstellersicht ergibt die enge Verknüpfung von Produkt und neuartigen Dienstleistungen zudem die Chance, das eigene Angebot besser gegen Produktpiraterie zu schützen. Durch das Produkt-Service-Bündel liegt der einzigartige Nutzen in der Gesamtfunktion und nicht in der Summe der möglicherweise einfach kopierbaren Teile.
 Zusammenfassend sollen Echtzeitdaten aus der Nutzung eines Produkts künftig punktgenaue Dienstleistungen ermöglichen und darüber hinaus in Weiterentwicklungen einfließen. Dadurch entsteht eine völlig neue Qualität von Produkten und Services."

 

Gottfried Roosen: "Wie schätzen Sie dabei die Rolle des Menschen mit dem Umgang innovativer Lösungen in diesem Kontext ein?"

Frau Ovtcharova: "Der Trend zu mehr sozialem Wohlbefinden im Einklang mit der Wohlstandssteigerung und die verstärkte Rolle der sozialen Vernetzung birgt deutlich die Anzeichen einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderung. Dabei handelt es sich nicht mehr nur darum die Weltwirtschaft für die großen Herausforderungen zu stärken. Menschen mit der Fähigkeit des vernetztes Denkens und Handelns und mit dem Blick für das große Ganze sind gefragt. Bisher wird der Mensch mit seinem Potential, trotz aller Beteuerungen, jedoch noch als „Human Ressource“ aber nicht wirklich als „Resourceful Human“ betrachtet. Der Übergang zum „Mensch im Mittelpunt der Betrachtung“ setzt eine zukunftsfähige Innnovationskultur voraus, die ein grundlegend verändertes Verständnis der menschlichen Möglichkeiten und Bedürfnisse im Umgang mit Technologien, Arbeitssystemen und natürlichen Ressourcen aber auch den Menschen selbst benötigt.
 Der Erfolg im Übergang von technologie- zu menschgerechten Arbeitssystemen, Produkten und Dienstleistungen hängt sehr stark vom Innovationsgrad eines Unternehmens ab. Für die praktische Umsetzung des Übergangs von Technologie- zu Menschgetriebenem ist das Virtual Engineering einsetzen. Im Unterschied zum traditionellen Digital Engineering, bei dem die rechnerunterstützten Systeme dem Mensch lediglich Hilfestellung anbieten und dieser nach wie vor die Prozesse führt, bietet das Virtual Engineering eine integrierte Prozess-System-Sicht auf den gesamten Produktlebenszyklus hinsichtlich Abstimmung, Bewertung und Mensch-Produkt-Interaktion in Echtzeit und in virtuellen Gestaltungsräumen. Dies ermöglicht es unter anderem Entwicklern, Lieferanten, Herstellern und Kunden gleichermaßen, das zukünftige Produkt von der Spezifikation bis hin zu Service und Recycling rein virtuell zu handhaben und hinsichtlich seiner Eigenschaften und Funktionen realitätsnah und ganzheitlich zu beurteilen."

Gottfried Roosen: "Vielen Dank für diese hochinteressanten Statements."